CLUSTER #6___Gedanken & Einzelsätze

Ob ich den Zug noch erreiche?

Vielleicht hätte ich ihr das einfach mal sagen sollen?

Ob es das jetzt gewesen ist mit uns beiden? Ich fahre und alles ist aus?

Ob ich ihn wiedersehe?

Ob die Katze mich wohl vermisst?

Hab ich die Tür abgeschlossen?

Ich würde am liebsten nicht fahren.

Endlich, endlich nach Haus.

Was ich hasse: zu spät am Bahnhof sein. Dann wird alles so hektisch.

Zu früh da zu sein, ist auch stressig. Dann muß ich immer aufs Klo.

Ich habe die Formel für die perfekte Abfahrt.

Ich zieh mich jetzt einfach mal aus.

Nach jedem Zug kommt ein nächster.

Nach jedem Zug kommt ein nächster, vor den man sich werfen kann.

Wenn ich heute nicht fahren müsste –

Hab ich das Gas ausgemacht?

Den kenn ich doch von irgendwoher.

Sag mal, mit wem sprichst du da?

Aber ich kenne dich ja!

Wieso hast du dein Frühstück nicht aufgegessen?

Nicht den Hochzeitstag vergessen … Nicht den Hochzeitstag vergessen …

Lösche das Feuer, sofort!

In diesem Bahnhof ist jemand, den ich kenne. So groß wie der ist, kann das gar nicht anders sein.

Ja, aber was sind das denn alles für Leute?

Baby, dit is Bärlin!

He, verschwinde du Vogel!

Klang und Wort: am Ort_vom Ort

> Berlin Hbf

Von und mit Thomas Gerwin (Komposition/Perkussion/Live-Elektronik), Kai Schubert (Text/Stimme/Regie) und Miriam Rave (Stimme)
 
1000 Sätze, die beschreiben, was jetzt gerade und immer wieder im Berliner Hauptbahnhof geschieht. 1000 kurze Splitter über Gänge, Blicke, Aktionen. Momentaufnahmen der Menschen, die dort als Reisende oder Beschäftigte vorbeikommen. Mitschriften ihrer Gedanken, Telefonate, Dialoge. Sätze, von denen der Bahnhof überquillt – die aber niemand zu hören bekommt, weil sie gleich wieder verwehen.
Dieses Ausgangsmaterial wird von zwei Sprechern live ausgewählt und in einer fortlaufenden Augenblicksentscheidung präsentiert. Dasselbe geschieht auf der Klang-Ebene: Vorher eingefangene oder ad hoc aufgenommene Sounds werden Musik, mit Live-Bearbeitung der gelesenen Sätze in der Performance neu zusammengesetzt und in eine harmonisch-rhythmische Struktur gebracht.
 
Premiere: 3. September 2011
 
Im Rahmen des Festivals „Ankunft: Neue Musik“ im Berliner Hauptbahnhof
 
* * *

CLUSTER #7___Innere Monologe

Ich komm her, um unter Menschen zu kommen.

Hier lässt man mich in Ruhe.

Hier bin ich niemals allein.

Hier bin ich unter Menschen.

Hier bin ich für mich allein.

Gestern saß ich vier Stunden auf der Bank dort und habe mir Schuhe angesehen.

Nichts als Füße, die vorübergehen.

Leder

Stoff

Turnschuhe

Viele Sandalen

Wie viele Nagellackfarben es gibt!

Ständig passiert irgend was:

1603 – Der Geschäftsmann

1604 – Der Flaschensammler

1605 – Die Frau mit sehr vielen Koffern

1607 – Karaoke

1608 bis 1636 – tote Zeit

1703 – Der Geschäftsmann

1704 – Der Flaschensammler

1705 – Die Frau mit sehr vielen Koffern

1707 – Karaoke

1708 bis 1636 – tote Zeit

usw.

Gestern bin ich vier Stunden hier rumgewandert und habe zu niemandem ein Wort gesagt.

Und niemand hat mich was gefragt.

Und keiner hat ein Wort zu mir gesagt.

Nur der Fahrstuhl.

CLUSTER #9___Momente

Der Mann von der Rolltreppe, der eben noch der Frau mit der Reisetasche beobachtet hat,

wendet sich nun ganz offen

der Frau mit dem Rollkoffer zu.

Er betrachtet diese so freundlich, wie er eben noch jene betrachtet hat.

Großes Drama.

Die Frau mit der Reisetasche schiebt sich mit gebrochenem Herzen die Sonnenbrille ins Haar.

Der Mann, der vor sechs Stunden noch in München frühstückte,

geht vorbei an der Frau,

die heute morgen in Paris aufgestanden ist.

Ein Kind aus Eberswalde staunt eine Frau an,

die vor genau einer Stunde mit einem Flugzeug aus Sydney in Tegel gelandet ist.

Jetzt fährt sie weiter nach Dresden.

Das Kind weiß davon nichts.

Es wundert sich nur über den Sonnenbrand auf ihrem Gesicht.

Der Mann, dessen Kopf noch vom Münchener Fön schmerzt,

geht vorbei an der Frau,

deren Haar nach dem Meer riecht, in dem sie noch geschwommen ist, als er bereits in seinen Zug stieg.

Er beachtet sie nicht.

Sie wundert sich über sein verkniffenes Gesicht.

Ein Mann geht die Rolltreppe hoch, vorbei an Zeitungsshop, Coffeeshop, Bäcker, WC-Center.

Dann Kehrtwendung.

Rolltreppe abwärts ins Tiefgeschoß.

Kein Blick auf die Werbetafeln

Die freien Bänke interessieren ihn nicht.

Und wenn ihm jemand in den Weg tritt

hält er nicht inne, sondern läuft um das Hindernis drum herum.

Wenn man ein Stück neben ihm hergeht

kann man ihn murmeln hören:

Ich will nicht sitzen

Ich will gehen

Immer weiter gehen.

Da oben sind ganz viele Büros, in denen immer Licht brennt.

Arbeiten die immer? Oder lebt jemand dort?

Schlange im Reisezentrum. Stell dir vor, wie die Luft da drinnen jetzt ist.

Bremsen kreischen wirklich, wenn ein Zug hält.

Ich dachte immer, dass sagt man nur so.

Vor der Frau auf der Bank taucht plötzlich ein Mann auf.

Er stützt sich auf den großen schwarzen Koffer, den sie zwischen ihren Beinen hält.

„Wo kommst du denn her?“ fragt sie.

„Ich komme von da, wo du hingesehen hast.“

„Ich hab dich gar nicht gesehen.“

„Ja, das hab ich gemerkt.“

Die Rolltreppen um die Mittelplattform sehen wie eine liegende Acht aus.

Symbol der Unendlichkeit.

Eine der Rolltreppen hat eine Fehlfunktion.

Keine Bewegung.

Einzig das Warnschild blinkt vor sich hin.

Auf der Rolltreppe zu hören

so laut und deutlich, als spräche dir jemand ins Ohr

„Der Zuch nach Postdam is jetz einjefahrn.“

Eine knurrige Zugführerstimme mit unverkennbarem Dialekt.

Eine berlinernde Insel

inmittenden der hauchenden Durchsagerinnenstimmen.

Ein Rudel blonder Mädchen trabt durch das Tiefgeschoß.

in Richtung Supermarkt

zum Untergeschoß

oder zum Ausgang

Sie lachen und jubeln.

Ich will wissen, was sie so freut.

Ein Mann mit Cowboystiefeln treibt seine Frau zur Eile an.

Er trägt eine Tasche. Sie zwei.

Wieviele Handtaschen kann eine Frau haben?

Diese Frau da trägt drei.

Anzahl der verschiedenen Sprachen, die gleichzeitig im Bahnhof zu hören sind:

Um acht Uhr morgens sind es fünf.

Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch; und eine, wo niemand weiß, was es ist.

Um zehn: Elf.

Um zwölf: Dreizehn.

Um fünf Uhr morgens: Keine.

Ausser den Backpackern, die im Obergeschoß 1 auf ihren Isomatten schlafen,

sind nur die Bahnpolizisten hier.

Aber niemand sagt was.

Der gesamte Bahnhof schweigt.

Die Bedienung im Dunkin Donuts

trägt ein magentafarbenes Fußball-Trikot und kurze Hosen.

Vielleicht eine Werbeaktion?

Langsam und bedächtig gräbt sie in ihrer Handtasche

und packt eine Kamera aus.

Sie macht genau ein Foto vom Inneren des Bahnhofs.

Dann schiebt sie den Apparat langsam und bedächtig an seinen Platz in der Tasche zurück.

Bei ihrem Koffer ist eine Rolle kaputt.

Bei jeder Drehung gibt es ein Knacken.

Bei jeder Drehung der Rolle macht der Koffer einen winzigen Sprung.

Drei Italienerinnen gehen, vollkommen synchron, in einer perfekten Reihe über die Mittelplattform.

Sie tragen die Handtasche über der rechten Schulter und haben ihre Wasserflasche in der linken Hand.

Auf der Rolltreppe kreischen sie plötzlich, als hätte jemand etwas obszönes gesagt.

Rudelbildung bei den Fahrplantafeln.

Finger zeigen auf Abfahrtszeiten.

30 Sekunden später liegt der nächste Finger dort.

Welcher Zentimeter des Bahnhofs wird am häufigsten berührt?

Zwei Mädchen, vielleicht drei und sieben, fassen sich vorm Schritt auf die Rolltreppe an der Hand.

Draussen muß es regnen. Die Schultern der Menschen sind nass.

Woran würde ich es hier drinnen merken, wenn draußen die Sonne scheint?

Vielleicht ist es draußen auch zugleich sonnig und kalt?

Auf Gleis – vier – fährt ein – Regionalexpress nach – Elsterwerda – über – Stralsund – Nächster Halt Ihres Zuges ist –

Die Kabinen der Fahrstühle gleiten

wie die Kartuschen einer gigantischen Rohrpost

in Zeitlupe hinauf und hinab.

In manchen Kartuschen steckt ein Einzelmensch.

In anderen ein ganzer Schwarm.

„Frau Gabriele Gebauer, Frau Gabriele Gebauer, bitte kommen Sie zur DB-Information am Europaplatz. Vielen Dank!“

„Mama, ich muß pullern!“

„Daddy, I’ve got to pee.“

„Wegen Oberleitungsklau trifft der ICE aus München heute – 120 Minuten – später ein.“

Und dann immer wieder Unterschiede in der Kleidung,

als ob sich die Menschen nicht im selben Gebäude befinden

sondern in verschiedenen Klimazonen

Kontinente voneinander entfernt.

Oben auf Gleis 16 fährt die S-Bahn ein.

Man hört’s gröhlen.

Ist denn schon wieder Fußball?

Vor den Fahrplänen: Jemand schaut lange auf die eine Seite der Tafel, geht auf die andere Seite hinüber, starrt dort den gleichen Punkt in der Mitte der Tafel an, kehrt auf die Seite zurück, auf der er zuerst stand und fixiert dieselben zwei Quadratzentimeter.

An diesem Müllcontainer kommt im Schnitt alle fünf Minuten ein Flaschensammler vorbei.

Oft mit einer Einkaufskarre, die man auf den ersten Blick mit einem Rollkoffer verwechseln kann.

Rollstühle sind hier selten.

Auch Menschen mit Krücken.

Auf dem Nachrichtenscreen,

explodiert eine Autobombe in Bagdad,

was aber niemand registriert.

„Kommst du nun, oder nicht? Mein Gott!“

schimpft eine ältere Dame.

Und vier ältere Damen zuckeln im Abstand von jeweils 10 Metern hinterher.

Zwei Frauen mit zwei großen Rollkoffern, einen an jeder Hand

Überqueren die Mittelplattform im Laufschritt

Von Süden nach Osten

Von Osten nach Süden

Und kommen gleich wieder zurück

Noch hastiger diesmal

Jetzt bleiben sie stehen, blockieren die Rolltreppe und keifen einander an.

Schnell noch ein Foto machen

bevor wir abfahren

Nee, noch ein bisschen da rüber.

KLICK.

Jetzt ist McDonald’s mit drin.

Bei einigen sieht man sofort, was sie sind:

Nonnen

Zugbegleiter

Flaschensammler

Sichtbar gearbeitet wird nicht.

Ein Ort ganz ohne Autos.

Standort Erdgeschoss

Aufzug zum Untergeschoss eins

Mit Übergang zum Untergeschoss zwei

und den Bahnsteigen drei vier

Alle drei Sekunden wechselt das Bild auf dem Werbescreen.

Schaut irgendjemand hin?

Wenn da Bild von mir wäre, riesengroß, unbekleidet –

Würde das überhaupt jemand sehen?

Jemand brüllt HILFE, so laut er kann.

Die Stimme eines 13jährigen Jungen.

Keine Abweichung im Ablauf.

Alle machen weiter ihr Ding.

Weshalb der Schrei doch nur ein Scherz gewesen sein kann.

Ein dreijähriges Mädchen mit einem Eis in der Hand

tritt in jede Bodenplatte genau einmal

als wäre es die wichtigste Sache auf der Welt.

Ein Luftballon löst sich

aus dem Griff eines Jungen und schwebt zum Glasdach empor.

Das Heulen, das man hört: Ist das die Alarmsirene eines Bewegungsmelders?

Oder das wütende Kind?

Ich bleib jetzt einfach hier stehen

Während alle anderen sich bewegen

Und seh ihnen dabei zu.

Da oben steht ja noch jemand.

Eine Frau mit einem Kind an der Hand.

Die beobachtet alles von oben.

Das ist clever.

Das fällt einem hier unten gar nicht auf.

Du glaubst, du beobachtest die anderen.

Aber jemand beobachtet dich.

Egal, wo du dich hinstellst: hier wirst du von mindestes zwei anderen angesehen.

Hier musst du schon ins WC-Center, um mal für dich zu sein.

Die Werbebanner drehen sich über den Rolltreppen.

Als gäbe es hier einen Wind.

Vielleicht ist das Gebäude auch so groß, dass es sein eigenes Wetter hat.

SO VERFÜHRT MAN HEUTE

LIEBE CASANOVAS

Ich kapier nicht, wofür das ne Werbung ist.

Dem Polizisten tun die Füße weh.

Rollschuhe

Roller

Skateboard

Der Boden wäre perfekt dafür.

Ist alles verboten hier!

Oben auf Gleis 16 dröhnt die S-Bahn unterm Himmel entlang.

Ein Mann im DHL- Farben

Lenkt einen Gitterwagen voller Pakete lässig mit der linken Hand.

Der Wagen tänzelt dabei vor sich hin

Wie ein seltsames, exotisches Tier.

Wahrscheinlich ist eine der Rollen defekt.

Am Fahrkartenautomat

Im Zeitungsshop

Hast du dich jemals gefragt, was all diese Touristen hier in der Stadt eigentlich machen?

Auf Bahnsteig 6 kämmt sich eine Frau ihre Haare.

Ein Afroamerikaner wird von der Bahnhofspolizei kontrolliert.

Früher Morgen.

Backpacker liegen im Obergeschoss 1

um eine der Bänke herum

inmitten einer Explosion aus Gepäckstücken.

Rucksäcke, Kochtöpfe, Isomatten Flaschen,

Zelten, Jonglierkeulen.

Bahnsteig 12

Bitte Beachten

Inter City 21 22

fährt heute nicht auf Gleis 12

sondern auf Gleis 13 ein

Wir bitten um ihr Verständnis

Der Washingtonplatz ist eine einzige Baustelle.

Zwei junge Männer.

Schwarze Jeans, schwarze Trainings-Jacken, darunter schwarze T-Shirts mit einem Graffitti in Neonfarben.

Aus ihren Mobiltelefonen plärrt ein HipHopTrack.

Es ist das selbe Lied, jedoch ein wenig zeitversetzt.

Radwanderer in kurzen Hosen und Neonjacken, die laut lachend in den Aufzug rollen.

Eine Frau mit einem schweren Rucksack

stellt ihr Gepäck ab

und knöpft erhitzt ihre Bluse auf.

Zwei Männer auf den oberen Geschossen sehen ihr dabei zu

und tun so

als würden sie die Nachrichten auf der Werbetafel lesen

an der der Rucksack der Frau lehnt.

Die Frau im eleganten Hosenanzug

sitzt auf dem Bahnsteig, Gleis 8,

das neueste MacBook auf dem Schoß

und postet bei Facebook

wie der gestrige Abend so verlaufen ist

wie lange sie im Club war

wo dann noch

und mit wem.

Die Reisenden, die vorübergehen,

sehen eine Geschäftsfrau,

die bereits mitten in der Arbeit steckt

noch ehe der Zug überhaupt losgefahren ist.

Ein Mann kommt die Treppe von den oberen Gleisen herunter.

Auf Gleis 13 ist ein Zug angekommen, Menschen drängen herunter, die Treppe ist voll, die Rolltreppe leer.

Alle laufen.

Warum?

Der Mann, der auf dem OG1 neben den Fahrstühlen an der Ballustrade steht und in die Tiefe sieht, denkt:

Ameisen.

Wir sind alle Ameisen in diesem Bau.

Als sie die Treppe zu den Gleisen emporsteigt, geht über dem Bahnsteig gerade die Sonne auf.

Eine Frau mit sehr vielen Koffern wartet nervös auf den Aufzug.

Sie schimpft, weil der Aufzug nicht kommt.

Schließlich geht sie in Richtung der Treppen.

Kaum ist die Frau verschwunden, kommt der Aufzug.

Die Türen gleiten auseinander.

Der Aufzug sagt sein Sprüchlein auf.

Die Türen schließen sich wieder.

Der Aufzug schwebt langsam davon.

Sie durchquert die Halle so hastig, als schiebe sie ihr eigener Rollkoffer vor sich her.

Der Mann mit dem Milchkaffee zählt die Koffer der Frau.

Sieben.

Wer braucht sieben Koffer?

Die Frau, die das Schaufenster putzt, blickt auf.

Sie stellt sich vor, was in den Koffern ist.

Der Mann an der Ballustrade überlegt, was in den Koffern der Frau ist.

Der Mann mit dem zerknitterten Anzug stellt sich vor, was in den Koffern ist.

Der Flaschensammler fragt sich, ob in einem der Koffer auch eine leere Flasche ist.

Ich gehe die Treppe hinunter, in den Zeitschriftenladen, ich betrachte die Hefte, ich gehe wieder hinaus, über die Plattform bei der Apotheke und wieder die Treppe hinauf. Sehr langsam.

Ich bin wieder am Ausgangspunkt.

Noch 35 Minuten, bis ihr Zug ankommt.

Keiner sieht, wie das Kind seinen Kaugummi auf die Scheibe der Rolltreppe klebt.

Niemand bemerkt, dass in einem der Slogans auf dem Werbebildschirm

Ein Buchstabe fehlt

Was den Sinn in das Gegenteil verkehrt.

Der Mann an der Ballustrade denkt:

Es steckt ein Plan in dem Durcheinander, den wir selber nicht sehen.

Der Nachrichtenblock auf der Werbetafel gießt den Schrecken der Welt

in Telegrammform über mir aus:

Ein Politiker ist zurückgetreten.

Ein Messer-Massaker in England.

Flugzeugabsturz in Equador.

Die Welt da draussen ist schrecklich.

Nur drinnen passiert gar nichts.

Hier im Bahnhof ist es sicher.

Ich bleibe für immer hier.

Im WC-Center (von hier aus nicht zu sehen) stößt jemand einen Putzwagen um.

Auf dem Parkplatz (von hier nicht zu sehen) kommt ein verdrecktes Taxi an.

Vom S-Bahn-Gleis aus

(von hier nicht zu sehen)

kann man die rotweiße Fahne der Schweizer Botschaft

ganz deutlich im Wind wehen sehen.

Zwei angetrunkene Mädchen telefonieren.

Die eine wiederholt der anderen, was ihr der Angerufene erklärt:

„48 Grad in der Sonne … Kannst du dir das vorstellen? Wie heiß es da erst im Panzer … – Was?“

Sie horcht in ihr Handy.

Zur Freundin: „Der Panzer ist klimatisiert.“

Ins Handy: „Sonst schicken wir dir einen Ventilator.“

Zur Freundin: „Hey, das wär doch was. Ein Ventilator für seinen Panzer, rosa mit Hello Kitty drauf.“

Die beiden Mädchen lachen sich schlapp.

Eine Schülergruppe stellt sich in einer ordentlichen Reihe

vor den Rolltreppen auf

Die Zweierreihe nimmt die Hälfte der Fläche ein.

Einer wirbelt mit einem Laserschwert aus Plastik herum.

Die Klinge geht vom Griff ab und schlittert lautstark davon.

Der Junge springt aus der Reihe und holt sich das Schwert zurück.

Die Lehrerin schimpft kurz, dann betreten die Schüler die Rolltreppe

wie ein einziger, großer Organismus.

Ohne die Abstände zu verändern.

Ohne dass Lücken entstehen.

Ein Tausendfüßler in Rosa und Hellblau

gleitet die Rolltreppe hinauf.

Es waltet eine Ordnung in all dem.

Ein Fahrplan.

All diese Menschen werden davon programmiert.

Was jetzt mal passieren müsste:

Dass jemand „Cut!“ ruft und sich die letzte Minute nur als Filmdreh entpuppt.