CLUSTER #9___Momente
Der Mann von der Rolltreppe, der eben noch der Frau mit der Reisetasche beobachtet hat,
wendet sich nun ganz offen
der Frau mit dem Rollkoffer zu.
Er betrachtet diese so freundlich, wie er eben noch jene betrachtet hat.
Großes Drama.
Die Frau mit der Reisetasche schiebt sich mit gebrochenem Herzen die Sonnenbrille ins Haar.
Der Mann, der vor sechs Stunden noch in München frühstückte,
geht vorbei an der Frau,
die heute morgen in Paris aufgestanden ist.
Ein Kind aus Eberswalde staunt eine Frau an,
die vor genau einer Stunde mit einem Flugzeug aus Sydney in Tegel gelandet ist.
Jetzt fährt sie weiter nach Dresden.
Das Kind weiß davon nichts.
Es wundert sich nur über den Sonnenbrand auf ihrem Gesicht.
Der Mann, dessen Kopf noch vom Münchener Fön schmerzt,
geht vorbei an der Frau,
deren Haar nach dem Meer riecht, in dem sie noch geschwommen ist, als er bereits in seinen Zug stieg.
Er beachtet sie nicht.
Sie wundert sich über sein verkniffenes Gesicht.
Ein Mann geht die Rolltreppe hoch, vorbei an Zeitungsshop, Coffeeshop, Bäcker, WC-Center.
Dann Kehrtwendung.
Rolltreppe abwärts ins Tiefgeschoß.
Kein Blick auf die Werbetafeln
Die freien Bänke interessieren ihn nicht.
Und wenn ihm jemand in den Weg tritt
hält er nicht inne, sondern läuft um das Hindernis drum herum.
Wenn man ein Stück neben ihm hergeht
kann man ihn murmeln hören:
Ich will nicht sitzen
Ich will gehen
Immer weiter gehen.
Da oben sind ganz viele Büros, in denen immer Licht brennt.
Arbeiten die immer? Oder lebt jemand dort?
Schlange im Reisezentrum. Stell dir vor, wie die Luft da drinnen jetzt ist.
Bremsen kreischen wirklich, wenn ein Zug hält.
Ich dachte immer, dass sagt man nur so.
Vor der Frau auf der Bank taucht plötzlich ein Mann auf.
Er stützt sich auf den großen schwarzen Koffer, den sie zwischen ihren Beinen hält.
„Wo kommst du denn her?“ fragt sie.
„Ich komme von da, wo du hingesehen hast.“
„Ich hab dich gar nicht gesehen.“
„Ja, das hab ich gemerkt.“
Die Rolltreppen um die Mittelplattform sehen wie eine liegende Acht aus.
Symbol der Unendlichkeit.
Eine der Rolltreppen hat eine Fehlfunktion.
Keine Bewegung.
Einzig das Warnschild blinkt vor sich hin.
Auf der Rolltreppe zu hören
so laut und deutlich, als spräche dir jemand ins Ohr
„Der Zuch nach Postdam is jetz einjefahrn.“
Eine knurrige Zugführerstimme mit unverkennbarem Dialekt.
Eine berlinernde Insel
inmittenden der hauchenden Durchsagerinnenstimmen.
Ein Rudel blonder Mädchen trabt durch das Tiefgeschoß.
in Richtung Supermarkt
zum Untergeschoß
oder zum Ausgang
Sie lachen und jubeln.
Ich will wissen, was sie so freut.
Ein Mann mit Cowboystiefeln treibt seine Frau zur Eile an.
Er trägt eine Tasche. Sie zwei.
Wieviele Handtaschen kann eine Frau haben?
Diese Frau da trägt drei.
Anzahl der verschiedenen Sprachen, die gleichzeitig im Bahnhof zu hören sind:
Um acht Uhr morgens sind es fünf.
Englisch, Französisch, Spanisch, Russisch; und eine, wo niemand weiß, was es ist.
Um zehn: Elf.
Um zwölf: Dreizehn.
Um fünf Uhr morgens: Keine.
Ausser den Backpackern, die im Obergeschoß 1 auf ihren Isomatten schlafen,
sind nur die Bahnpolizisten hier.
Aber niemand sagt was.
Der gesamte Bahnhof schweigt.
Die Bedienung im Dunkin Donuts
trägt ein magentafarbenes Fußball-Trikot und kurze Hosen.
Vielleicht eine Werbeaktion?
Langsam und bedächtig gräbt sie in ihrer Handtasche
und packt eine Kamera aus.
Sie macht genau ein Foto vom Inneren des Bahnhofs.
Dann schiebt sie den Apparat langsam und bedächtig an seinen Platz in der Tasche zurück.
Bei ihrem Koffer ist eine Rolle kaputt.
Bei jeder Drehung gibt es ein Knacken.
Bei jeder Drehung der Rolle macht der Koffer einen winzigen Sprung.
Drei Italienerinnen gehen, vollkommen synchron, in einer perfekten Reihe über die Mittelplattform.
Sie tragen die Handtasche über der rechten Schulter und haben ihre Wasserflasche in der linken Hand.
Auf der Rolltreppe kreischen sie plötzlich, als hätte jemand etwas obszönes gesagt.
Rudelbildung bei den Fahrplantafeln.
Finger zeigen auf Abfahrtszeiten.
30 Sekunden später liegt der nächste Finger dort.
Welcher Zentimeter des Bahnhofs wird am häufigsten berührt?
Zwei Mädchen, vielleicht drei und sieben, fassen sich vorm Schritt auf die Rolltreppe an der Hand.
Draussen muß es regnen. Die Schultern der Menschen sind nass.
Woran würde ich es hier drinnen merken, wenn draußen die Sonne scheint?
Vielleicht ist es draußen auch zugleich sonnig und kalt?
Auf Gleis – vier – fährt ein – Regionalexpress nach – Elsterwerda – über – Stralsund – Nächster Halt Ihres Zuges ist –
Die Kabinen der Fahrstühle gleiten
wie die Kartuschen einer gigantischen Rohrpost
in Zeitlupe hinauf und hinab.
In manchen Kartuschen steckt ein Einzelmensch.
In anderen ein ganzer Schwarm.
„Frau Gabriele Gebauer, Frau Gabriele Gebauer, bitte kommen Sie zur DB-Information am Europaplatz. Vielen Dank!“
„Mama, ich muß pullern!“
„Daddy, I’ve got to pee.“
„Wegen Oberleitungsklau trifft der ICE aus München heute – 120 Minuten – später ein.“
Und dann immer wieder Unterschiede in der Kleidung,
als ob sich die Menschen nicht im selben Gebäude befinden
sondern in verschiedenen Klimazonen
Kontinente voneinander entfernt.
Oben auf Gleis 16 fährt die S-Bahn ein.
Man hört’s gröhlen.
Ist denn schon wieder Fußball?
Vor den Fahrplänen: Jemand schaut lange auf die eine Seite der Tafel, geht auf die andere Seite hinüber, starrt dort den gleichen Punkt in der Mitte der Tafel an, kehrt auf die Seite zurück, auf der er zuerst stand und fixiert dieselben zwei Quadratzentimeter.
An diesem Müllcontainer kommt im Schnitt alle fünf Minuten ein Flaschensammler vorbei.
Oft mit einer Einkaufskarre, die man auf den ersten Blick mit einem Rollkoffer verwechseln kann.
Rollstühle sind hier selten.
Auch Menschen mit Krücken.
Auf dem Nachrichtenscreen,
explodiert eine Autobombe in Bagdad,
was aber niemand registriert.
„Kommst du nun, oder nicht? Mein Gott!“
schimpft eine ältere Dame.
Und vier ältere Damen zuckeln im Abstand von jeweils 10 Metern hinterher.
Zwei Frauen mit zwei großen Rollkoffern, einen an jeder Hand
Überqueren die Mittelplattform im Laufschritt
Von Süden nach Osten
Von Osten nach Süden
Und kommen gleich wieder zurück
Noch hastiger diesmal
Jetzt bleiben sie stehen, blockieren die Rolltreppe und keifen einander an.
Schnell noch ein Foto machen
bevor wir abfahren
Nee, noch ein bisschen da rüber.
KLICK.
Jetzt ist McDonald’s mit drin.
Bei einigen sieht man sofort, was sie sind:
Nonnen
Zugbegleiter
Flaschensammler
Sichtbar gearbeitet wird nicht.
Ein Ort ganz ohne Autos.
Standort Erdgeschoss
Aufzug zum Untergeschoss eins
Mit Übergang zum Untergeschoss zwei
und den Bahnsteigen drei vier
Alle drei Sekunden wechselt das Bild auf dem Werbescreen.
Schaut irgendjemand hin?
Wenn da Bild von mir wäre, riesengroß, unbekleidet –
Würde das überhaupt jemand sehen?
Jemand brüllt HILFE, so laut er kann.
Die Stimme eines 13jährigen Jungen.
Keine Abweichung im Ablauf.
Alle machen weiter ihr Ding.
Weshalb der Schrei doch nur ein Scherz gewesen sein kann.
Ein dreijähriges Mädchen mit einem Eis in der Hand
tritt in jede Bodenplatte genau einmal
als wäre es die wichtigste Sache auf der Welt.
Ein Luftballon löst sich
aus dem Griff eines Jungen und schwebt zum Glasdach empor.
Das Heulen, das man hört: Ist das die Alarmsirene eines Bewegungsmelders?
Oder das wütende Kind?
Ich bleib jetzt einfach hier stehen
Während alle anderen sich bewegen
Und seh ihnen dabei zu.
Da oben steht ja noch jemand.
Eine Frau mit einem Kind an der Hand.
Die beobachtet alles von oben.
Das ist clever.
Das fällt einem hier unten gar nicht auf.
Du glaubst, du beobachtest die anderen.
Aber jemand beobachtet dich.
Egal, wo du dich hinstellst: hier wirst du von mindestes zwei anderen angesehen.
Hier musst du schon ins WC-Center, um mal für dich zu sein.
Die Werbebanner drehen sich über den Rolltreppen.
Als gäbe es hier einen Wind.
Vielleicht ist das Gebäude auch so groß, dass es sein eigenes Wetter hat.
SO VERFÜHRT MAN HEUTE
LIEBE CASANOVAS
Ich kapier nicht, wofür das ne Werbung ist.
Dem Polizisten tun die Füße weh.
Rollschuhe
Roller
Skateboard
Der Boden wäre perfekt dafür.
Ist alles verboten hier!
Oben auf Gleis 16 dröhnt die S-Bahn unterm Himmel entlang.
Ein Mann im DHL- Farben
Lenkt einen Gitterwagen voller Pakete lässig mit der linken Hand.
Der Wagen tänzelt dabei vor sich hin
Wie ein seltsames, exotisches Tier.
Wahrscheinlich ist eine der Rollen defekt.
Am Fahrkartenautomat
Im Zeitungsshop
Hast du dich jemals gefragt, was all diese Touristen hier in der Stadt eigentlich machen?
Auf Bahnsteig 6 kämmt sich eine Frau ihre Haare.
Ein Afroamerikaner wird von der Bahnhofspolizei kontrolliert.
Früher Morgen.
Backpacker liegen im Obergeschoss 1
um eine der Bänke herum
inmitten einer Explosion aus Gepäckstücken.
Rucksäcke, Kochtöpfe, Isomatten Flaschen,
Zelten, Jonglierkeulen.
Bahnsteig 12
Bitte Beachten
Inter City 21 22
fährt heute nicht auf Gleis 12
sondern auf Gleis 13 ein
Wir bitten um ihr Verständnis
Der Washingtonplatz ist eine einzige Baustelle.
Zwei junge Männer.
Schwarze Jeans, schwarze Trainings-Jacken, darunter schwarze T-Shirts mit einem Graffitti in Neonfarben.
Aus ihren Mobiltelefonen plärrt ein HipHopTrack.
Es ist das selbe Lied, jedoch ein wenig zeitversetzt.
Radwanderer in kurzen Hosen und Neonjacken, die laut lachend in den Aufzug rollen.
Eine Frau mit einem schweren Rucksack
stellt ihr Gepäck ab
und knöpft erhitzt ihre Bluse auf.
Zwei Männer auf den oberen Geschossen sehen ihr dabei zu
und tun so
als würden sie die Nachrichten auf der Werbetafel lesen
an der der Rucksack der Frau lehnt.
Die Frau im eleganten Hosenanzug
sitzt auf dem Bahnsteig, Gleis 8,
das neueste MacBook auf dem Schoß
und postet bei Facebook
wie der gestrige Abend so verlaufen ist
wie lange sie im Club war
wo dann noch
und mit wem.
Die Reisenden, die vorübergehen,
sehen eine Geschäftsfrau,
die bereits mitten in der Arbeit steckt
noch ehe der Zug überhaupt losgefahren ist.
Ein Mann kommt die Treppe von den oberen Gleisen herunter.
Auf Gleis 13 ist ein Zug angekommen, Menschen drängen herunter, die Treppe ist voll, die Rolltreppe leer.
Alle laufen.
Warum?
Der Mann, der auf dem OG1 neben den Fahrstühlen an der Ballustrade steht und in die Tiefe sieht, denkt:
Ameisen.
Wir sind alle Ameisen in diesem Bau.
Als sie die Treppe zu den Gleisen emporsteigt, geht über dem Bahnsteig gerade die Sonne auf.
Eine Frau mit sehr vielen Koffern wartet nervös auf den Aufzug.
Sie schimpft, weil der Aufzug nicht kommt.
Schließlich geht sie in Richtung der Treppen.
Kaum ist die Frau verschwunden, kommt der Aufzug.
Die Türen gleiten auseinander.
Der Aufzug sagt sein Sprüchlein auf.
Die Türen schließen sich wieder.
Der Aufzug schwebt langsam davon.
Sie durchquert die Halle so hastig, als schiebe sie ihr eigener Rollkoffer vor sich her.
Der Mann mit dem Milchkaffee zählt die Koffer der Frau.
Sieben.
Wer braucht sieben Koffer?
Die Frau, die das Schaufenster putzt, blickt auf.
Sie stellt sich vor, was in den Koffern ist.
Der Mann an der Ballustrade überlegt, was in den Koffern der Frau ist.
Der Mann mit dem zerknitterten Anzug stellt sich vor, was in den Koffern ist.
Der Flaschensammler fragt sich, ob in einem der Koffer auch eine leere Flasche ist.
Ich gehe die Treppe hinunter, in den Zeitschriftenladen, ich betrachte die Hefte, ich gehe wieder hinaus, über die Plattform bei der Apotheke und wieder die Treppe hinauf. Sehr langsam.
Ich bin wieder am Ausgangspunkt.
Noch 35 Minuten, bis ihr Zug ankommt.
Keiner sieht, wie das Kind seinen Kaugummi auf die Scheibe der Rolltreppe klebt.
Niemand bemerkt, dass in einem der Slogans auf dem Werbebildschirm
Ein Buchstabe fehlt
Was den Sinn in das Gegenteil verkehrt.
Der Mann an der Ballustrade denkt:
Es steckt ein Plan in dem Durcheinander, den wir selber nicht sehen.
Der Nachrichtenblock auf der Werbetafel gießt den Schrecken der Welt
in Telegrammform über mir aus:
Ein Politiker ist zurückgetreten.
Ein Messer-Massaker in England.
Flugzeugabsturz in Equador.
Die Welt da draussen ist schrecklich.
Nur drinnen passiert gar nichts.
Hier im Bahnhof ist es sicher.
Ich bleibe für immer hier.
Im WC-Center (von hier aus nicht zu sehen) stößt jemand einen Putzwagen um.
Auf dem Parkplatz (von hier nicht zu sehen) kommt ein verdrecktes Taxi an.
Vom S-Bahn-Gleis aus
(von hier nicht zu sehen)
kann man die rotweiße Fahne der Schweizer Botschaft
ganz deutlich im Wind wehen sehen.
Zwei angetrunkene Mädchen telefonieren.
Die eine wiederholt der anderen, was ihr der Angerufene erklärt:
„48 Grad in der Sonne … Kannst du dir das vorstellen? Wie heiß es da erst im Panzer … – Was?“
Sie horcht in ihr Handy.
Zur Freundin: „Der Panzer ist klimatisiert.“
Ins Handy: „Sonst schicken wir dir einen Ventilator.“
Zur Freundin: „Hey, das wär doch was. Ein Ventilator für seinen Panzer, rosa mit Hello Kitty drauf.“
Die beiden Mädchen lachen sich schlapp.
Eine Schülergruppe stellt sich in einer ordentlichen Reihe
vor den Rolltreppen auf
Die Zweierreihe nimmt die Hälfte der Fläche ein.
Einer wirbelt mit einem Laserschwert aus Plastik herum.
Die Klinge geht vom Griff ab und schlittert lautstark davon.
Der Junge springt aus der Reihe und holt sich das Schwert zurück.
Die Lehrerin schimpft kurz, dann betreten die Schüler die Rolltreppe
wie ein einziger, großer Organismus.
Ohne die Abstände zu verändern.
Ohne dass Lücken entstehen.
Ein Tausendfüßler in Rosa und Hellblau
gleitet die Rolltreppe hinauf.
Es waltet eine Ordnung in all dem.
Ein Fahrplan.
All diese Menschen werden davon programmiert.
Was jetzt mal passieren müsste:
Dass jemand „Cut!“ ruft und sich die letzte Minute nur als Filmdreh entpuppt.